Freitag, 17. Juli 2015

Ethische Fragen in der archäologischen Praxis

Cristobál Gnecco/Dorothy Lippert (Hrsg.)
Ethics and archaeological praxis. 
Ethical archaeologies: the politics of social justice 1

(New York, Heidelberg, Dordrecht, London: Springer 2015).

ISBN 978-1-4939-1645-0

Hardcover, 258 Seiten

120,27 € (als e-book: )

Ethische Probleme stellen sich in der Archäologie allenthalben. Sie stellen sich gegenüber Individuen, Minderheiten, gegenüber der gesamten Gesellschaft, aber auch gegenüber unseren archäologischen Quellen selbst. 
  • Instrumentalisierung und Kommerzialisierung: Der Missbrauch der Vergangenheit für Partikularinteressen und politische Propaganda
    • z.B. Umgang mit der Propaganda des Daesh ('IS')
  • Wissenschaft als Methode
    • gute wissenschaftliche Praxis im Fach
    • Umgang mit Parawissenschaften 
    • Selbstkritik
  • Ansprüche der Gesellschaft/Öffentlichkeit (Wem gehört die Vergangenheit?)
    • Information
    • Öffentlichkeitsarbeit
    • Eigentumsfragen
    • Einbindung von Laien
    • Umgang mit nicht-wissenschaftlichen Interessen
  • Umgang mit fremden Traditionen und Kulturen
    • Minderheiten
    • benachbarte Gesellschaften
    • Einheimische
    • kolonialistische Interpretationsmuster
  • Konservierung und Schutz der Fundstellen
    • Funde (Probleme der praktischen Konservierung, Archivierung, Ausstellung)
    • bei Grabungen angetroffene Baureste (die häufig die Untersuchung älterer Befunde stören) 
    • Problem der 'Lustgrabung'
    • Waffeneinsatz gegen Kulturzerstörer?
  • Antikenhandel und Schutz vor Raubgrabungen
  • Der Umgang mit menschlichen Resten
Vor diesem Hintergrund haben viele Institutionen in den vergangenen Jahren ethische Richtlinien für die Archäologie erarbeitet, die über einfache Regeln guter wissenschaftlicher Praxis hinausreichen.

Im deutschsprachigen Raum wurden solche ethischen Richtlinien eher selten diskutiert, obwohl gerade auch die deutsche Forschungsgeschichte sehr viel Anlaß bietet, das Thema ernst zu nehmen. Speziell auf ihre Anforderungen haben sich DAI und der Verband der Landesarchäologen Selbstverpflichtungen auferlegt bzw. Leitlinien formuliert:
Diese Richtlinien sind bei weitem nicht so umfassend wie die oben skizzierten Themen der archäologischen Ethik. Vielleicht ist es auch tatsächlich nicht erforderlich, dass Ethikrichtlinien feste Vorschriften für alle Punkte formulieren - ein Bewusstsein für die kritischen Punkte sollte im Fach und darüber hinaus aber vorhanden sein und kann mit entsprechenden Richtlinien voran getrieben werden. Vieles davon ist selbstverständlich, in manchen Punkten zeigen sich in der Praxis aber Spannungen (das betrifft z.B. den Umgang mit Raubgrabungsfunden, wo es Kollegen gibt, die argumentieren, man dürfe bekannte Funde nicht aus Katalogen ausschließen, 'nur' weil ihr Kontext unbekannt geblieben ist). Andere Probleme sind neu, so etwa der Umgang mit dem Kulturterror des Daesh ('IS'): Soll man dessen Propagandameldungen weiter verbreiten, was jedoch im Hinblick darauf notwendig scheint, dass sie erst westlichen Sammlern deutlich machen, dass ihr Kauf solche Zerstörung (und in erster Linie auch deren Bluttaten) unterstützt.

Der Bedarf nach Diskussion und Orientierung ethischer Fragen in der Archäologie besteht also und so verspricht der mit einem amerikanischen Hintergrund geschriebene Band Ethics and archaeological praxis gleichwohl auch Impulse für eine Diskussion in der deutschen Archäologie. Er gliedert sich in zwei Teile, wobei sich der erste der Frage widmet, inwiefern es überhaupt eine generelle, globale archäologische Ethik gibt und was die Rahmenbedingungen für ihre Rechtfertigung und lokale Reaktionen sind. Der zweite Teil dreht sich mehr der Praxis und thematisiert die Erscheinungen, Transformationen  und Zugeständnisse.



In den USA geht die Diskussion um Ethik in der Archäologie, wie Cristóbal Gnecco in Chapter 1 An Entanglement of Sorts: Archaeology, Ethics, Praxis, Multiculturalism einführend beschreibt (S. 1-17), in die 1930er Jahre zurück, als die Society for American Archaeology (SAA) in ihren Statuten ihren Mitgliedern das Sammeln und den Handel mit archäologischen Objekten verboten hat. In der Folge kamen neuere Punkte hinzu, sodass diein den 1990er Jahren erarbeiteten SAA-Prinzipien nun 8 Punkte umfassen:
Principle No. 1: Stewardship
Principle No. 2: Accountability
Principle No. 3: Commercialization
Principle No. 4: Public Education and Outreach
Principle No. 5: Intellectual Property
Principle No. 6: Public Reporting and Publication
Principle No. 7: Records and Preservation
Principle No. 8: Training and Ressources
 
Mit der Gründung der Society of Professional Archaeologists (SOPA) und den Bemühungen um ein geschütztes Berufsbild und ein Register in den 1970er Jahren wurden Sanktionen bei Regelverstößen thematisiert.

In der Diskussion um solche Ethikrichtlinien wurde kritisch eingewandt, dass das moralisch Richtige zeitgebunden sei, solche Richtlinien aber die kritische Reflektion unterbinden. Allerdings wird auch der gegenteilige Standpunkt vertreten: Erst die Diskussion um solche Richtlinen hätte die Reflektion angestoßen.
Die Beiträge des Bandes repräsentieren unterschiedliche Standpunkte, basieren aber überwiegend auf Erfahrungen der Praxis.

Blick aus der Praxis - unterschiedliche Themenschwerpunkte


Wie Joe Watkins in seinem Beitrag (Chapter 2 "An Indigenous Anthropologist's Perspective on Archaeological Ethics") betont, nehmen die in den 1990er Jahren erarbeiteten SAA-Prinzipien jedoch keine Stellung zur Frage der Repatriierung von Kulturgütern. Im Gegenteil, da die Ethikrichtlinien die Bewahrung von Sammlungen einfordern, könne die Rückgabe von Funden an die moralischen (oder gar rechtlichen?) Eigentümer als unethisch gelten. Die Richtlinien des WAC (der 1986 aus einem Streit über die Stellung der archäologischen Wissenschaften zur südafriaknischen Apartheidpolitik gegründet wurde und von Anfang an den nicht-westlichen Stimmen im Fach mehr Gewicht geben wollte - vergl. http://www.worldarchaeologicalcongress.org/about-wac/history/146-history-wac) sind in diesem Punkt deutlicher. Während die Richtlinien der SAA die Verantwortlichkeit der Archäologen insbesondere gegenüber dem archäologischen Befund und nicht gegenüber irgendwelchen lebenden sozialen Gruppen (außer der Gemeinschaft der Archäologen selbst) sehen, betont der WAC die Rechte indigener Gruppen.

Der Postkolonialismus stelllt einen wichtigen Hintergrund für viele der Kapitel dar. Dabei ist Postkolonialismus keineswegs mehr an die ehemaligen Kolonien gebunden, er vertritt vielmehr eine Perspektive, die den unterschiedlichsten Minderheiten ihre Rechte an einer eigenen Geschichtsinterpretation zubilligt. In Deutschland wurde dies bisher kaum diskutiert. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt der Band "Macht der Vergangenheit - wer macht Vergangenheit?" dar (Wolfram/Sommer 1996). Da die Vor- und Frühgeschichte vor allem eine weiter zurückliegenden Vergangenheit betrachtet, sind in Deutschland allenfalls die dänische oder sorbische Minderheiten zu nennen. Mit einer Archäologie des Mittelalters, der Neuzeit oder gar der Zeitgeschichte wird das Problem jedoch deutlicher. Hier gibt es neben der 'deutschen' Perspektive für viele Themen beispielsweise eben auch eine 'jüdische', eine 'waldensische', 'slawische' oder dänische Perspektive - und wir müssen auch damit rechnen, dass es bald auch eine absolut legitime spezielle Perspektive auf die Geschichte von Migranten geben wird.
Eine kolonialistische Perspektive ist nicht allein an Kolonien gebunden. Sie trifft sich in vielem mit  nationalistischen Perpsektiven, nämlich in der Idee einer Überlegenheit und einer abwertenden Einschätzung des Gegenübers - oder gar dessen Negierens. Eine solche kolonialistische Betrachtung finden wir beispielsweise auch bei dem Blick auf den mittelalterlichen Landesausbau (vergl. Archaeologik 21.7.2014). Ethisch relevant wird es vor allem dort, wo es heute noch Menschen gibt, die sich in der Tradition der 'Anderen' sehen.  

Der Band betont die Rechte einer multikulturellen Öffentlichkeit am kulturellen Erbe. Mit der Faro-Konvention des Europarates (Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft) wird die Diskussion auch in Deutschland an Aktualität gewinnen. Einer der wenigen Beiträge des Bandes, der explizit auf Europa Bezug nimmt, ist der von Arkadiusz Marciniak (S. 49-60), der Mittel- und Osteuropa behandelt. Er betont die Theorieabstinenz infolge der Anbiederung an verschiedene Regime und die Neustrukturierung der Archäologie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Abgesehen von der Rolle verschiedener europäischer Konvenionen, insbesondere der Malta-Konvention stellten sich einige praktische Herausforderungen durch große Bauvorhaben, insbesondere auch lineare Projekte. Die ethischen Probleme der Archäologie sieht Marciniak daher auch vor allem in der Kommerzialisierung der Archäologie mit der fraglichen Vereinbarkeit von freiem Markt und den Anforderungen des Kulturgutschutzes. Verschiedene europäische Ethikrichtlinien setzen denn auch hier an: Die EAA Codes of Practice von 1992, die EAA Principle of Conduct for Archaeologists involved in Contract Archaeological Work von 1998. Zahlreiche nationale Richtlinien etwa aus Polen, Ungarn und Rumänien greifen dieses Spannungsfeld auf, aber auch die ICOMOS Charter for the Protection and management of the Archaeological Heritage von 1990.
Víctor M. Fernández vergleicht (S. 61-68) explizit die europäischen Ethikrichtlinien - insbesondere die der EAA, sowie aus Großbritannien und Spanien - mit jenen aus den USA. Im Gegensatz zu Marciniak betont er die Eigentumsfragen sehr viel stärker. Er verweist anhand von Beispielen aus Spanien auf Besitzansprüche an achäologischen Funden von National-, Regional- und Lokalmuseen, aber auch auf die Interessen von Anhängern einer Pseudoarchäologie, die an fremde Zivilisationen, UFOs, Kornkreise oder den Fluch des Pharao glauben. In dieses Umfeld gehört auch der Antikenhandel. Inwiefern haben Menschen das Recht, Funde von ihrem Grund und Boden zu verkaufen, insbesondere, wenn sie kein anderes Einkommen haben? Sammler behaupten, bei ihnen seien Funde besser aufgehoben als in Museumsmagazinen. Fernández schildert auch den spannenden Fall muslimischer Einwanderer, die in Granada bei Augrabungen in einem mittelalterlichen-muslimischen Friedhof verlangten, dass die Skelette auf einem neuen islamischen Friedhof wiederbestattet würden und sich so in eine Tradition mit dem islamischen Al-Andalus stellen.


Von den übrigen Beiträgen sei derjenige von Nicolas Zorzin herausgegriffen (S. 115-139) - Archaeology and Capitalism, der auf die soziale Komponente der Beschäftigungsverhältnisse insbesondere in der contract archaeology abhebt. Seine Beispiele kommen überwiegend aus Kanada, doch stellt sich die Problematik ähnlich auch anderswo - auch in Deutschland.  
Der Band spricht viele Aspekte archäologischer Ethik an, die in Deutschland bisher kaum diskutiert werden. Die betreffenden Probleme bestehen jedoch längst, werden aber entweder (noch) nicht ernst genommen, oder aber institutionell von oben geregelt. Die ausbleibende breite Diskussion im Fach bzw. die Diskussionskultur sind prinzipiell auch eine Frage archäologischer Ethik.


Inhaltsverzeichnis


1 Cristóbal Gnecco: An Entanglement of Sorts: Archaeology, Ethics, Praxis, Multiculturalism 

Part I -  Is There a Global Archaeological Ethics? Canonical Conditions for Discursive Legitimacy and Local Responses

2 Joe Watkins: An Indigenous Anthropologist’s Perspective on Archaeological Ethics

3 Caroline Phillips and Anne Ross: Both Sides of the Ditch: The Ethics of Narrating the Past in the Present


4 Rafael Pedro Curtoni: Against Global Archaeological Ethics: Critical Views from South America


5 Arkadiusz Marciniak: Archaeology and Ethics: The Case of Central- Eastern Europe

6 Víctor M. Fernández: Europe: Beyond the Canon


7 Neal Ferris and John R. Welch: New Worlds: Ethics in Contemporary North American Archaeological Practice


Part II - Archaeological Ethics in the Global Arena: Emergences, Transformations, Accommodations

8 Alejandro Haber: Archaeology and Capitalist Development: Lines of Complicity

9 Nicolas Zorzin: Archaeology and Capitalism: Successful Relationship or Economic and Ethical Alienation?


10 Jaime Almansa Sánchez: Trading Archaeology Is Not Just a Matter of Antiquities: Archaeological Practice as a Commodity

11 Carol McDavid / Terry P. Brock: The Differing Forms of Public Archaeology: Where We Have Been, Where We Are Now, and Thoughts for the Future

12 Mitchell Allen: Ethics in the Publishing of Archaeology


13 Michael A. Di Giovine: Patrimonial Ethics and the Field of Heritage Production

14 Lesley Green: Archaeologies of Intellectual Heritage?


15 Eldon Yellowhorn: Just Methods, No Madness: Historical Archaeology on the Piikani First Nation


Literatur

  • Wolfram/Sommer 1996
    S. Wolfram/U. Sommer (Hrsg.), Macht der Vergangenheit - wer macht Vergangenheit? Archäologie und Politik. Beitr. Ur- u. Frühgesch. Mitteleuropa 3 (Weissbach 1996).

PS

Diese Rezension wurde mit Hilfe des freien 180-Tage-Zugangs zur online-Version des Buches geschrieben, die Springer Rezensenten einräumt. Es ist jedoch äußerst störend, dass  copy&paste-Funktionen nicht möglich ist. Es ist gerade eine der Vorteile digitaler Publikationen, dass eine leichtere Weiterverarbeitung möglich ist, der hier eher aus Profit- denn aus Urheberrechtsgründen eingeschränkt wird. Ich weiß nicht, ob man mit den teuer erworbenen Dateien (>120€) diesbezüglich bessere Arbeitsmöglichkeiten hat. Eine Druckausgabe des Bandes kenne ich bisher nicht (sie wird einem versprochen, wenn die Rezension publiziert ist), allerdings konnte mich die Qualität ähnlicher Springer-Produkte angesichts ihrer Preise nicht überzeugen.

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